Edvard Hoem: Der Heumacher

  Eine neue Zeit

 

Knut Hansen Nesje, genannt Nesje, wurde 1838 als elftes Kind von Marta Kristine Anderdatter Nesje geboren, den Leserinnen und Lesern der familienbiografischen Romane von Edvard Hoem bestens als Die Hebamme bekannt, und war der Urgroßvater des Autors. Kaum mehr als die Daten der Kirchenbücher und die Erzählungen des Großvaters sind verbürgt:

Ich musste ihn herbeidichten, aus Luft und aus dem Nichts, aus dem Licht über Molde und Rekneslia, aus dem Wind, der meine Haare zaust, und aus dem Regen, der auf Felder und Menschen fiel – zu seiner wie zu meiner Zeit. (S. 5)

Ein entbehrungsreiches Leben
Nesje lebte als Kleinbauer das harte Leben seiner Vorfahren, bestehend aus der Anstellung beim Großbauern, den Pflichttagen zur Bezahlung der Pacht auf dem Gut Reknes und der Arbeit auf dem gepachteten Land, 160 Ar in Rekneslia oberhalb der Kleinstadt Molde in der norwegischen Provinz Møre og Romsdal.

Der Roman beginnt kurz vor der zweiten Hochzeit des Witwers Nesje 1875 mit Serianna vom Bortehof in der Siedlung Hoem, auf dem Edvard Hoem heute wieder teilweise lebt. Serianna war die Großnichte von Lars Olsen Hoem, Protagonist von Der Geigenbauer. Vier Kinder wurden dem Paar geboren, darunter der Großvater des Autors.

© B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

40 Jahre lang machte Nesje Heu auf dem Gutshof und war stolz auf seine Meisterschaft mit der Sense und auf sein kleines „Nesje-Stück“. Nur selten haderte er mit seinem geplatzten Traum vom eigenen Grund und Boden. Trotz aller Mühsal, Sorge und fehlendem Wahlrecht kam ein Weggehen für ihn nie in Betracht, obwohl es diese Möglichkeit durchaus gegeben hätte. Hunderttausende norwegische Bauernfamilien wanderten damals aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in die USA aus:

„Mutter Norwegen schafft es nicht, alle ihre Kinder zu ernähren“, […] „Also müssen einige von ihnen hinaus in die Welt.“ (S. 36)

Fotos vom Romsdalsfjord, vom Moldefjord und vom Auswandererdenkmal in Cobh (Irland): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

Der Traum vom besseren Leben
Auch in Nesjes Verwandtschaft grassierte das Auswandererfieber. Seriannas jüngste, abenteuerlustige Schwester Gjertine, die zweite Protagonistin des Romans, überredete 1886 ihren Mann Ole zur Auswanderung, um ihrem Traum von einem besseren und freieren Leben für sich und ihre Kinder näherzukommen, andere aus der Familie folgten nach. Doch auch in South-Dakota wartete ein entbehrungsreiches, hartes Leben auf die Neuankömmlinge und längst nicht jeder Traum wurde wahr, obwohl darüber in den Briefen nach Hause oft geschwiegen wird.

Edvard Hoem bei einer Lesung in Bellheim am 12.04.2024. © B. Busch

Edvard Hoem – ein begnadeter Geschichtenerzähler
Der Heumacher, im Original 2014 und erstmals auf Deutsch 2024 im Verlag Urachhaus erschienen, ist der Auftakt zum mehrbändigen Romanzyklus Edvard Hoems über die norwegische Auswanderung. Wie alle seine familienhistorischen Romane, die ich im Laufe der letzten Jahre mit immer größerer Begeisterung gelesen habe, ist auch Der Heumacher absolut mitreißend und von Antje Subey-Cramer hervorragend übersetzt. Ich liebe die Bücher des begnadeten Geschichtenerzählers Edvard Hoem für die knappe, leicht verständliche, unverwechselbare Sprache in Verbindung mit den poetischen Landschaftsbeschreibungen, das ruhige Erzähltempo, die Bilder voller Intensität, die akribische historische Recherche und die empathische Figurenzeichnung. Mittendrin im Leben der Menschen war ich beim Lesen, teilnehmend an ihren Sorgen und schwierigen Entscheidungsprozessen ebenso wie an den sonnigen Momenten und voller Freude, wenn mir vertraute Figuren aus anderen Romanen wiederbegegneten.

© B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

Ich hoffe sehr, dass bald auch die Folgebände auf Deutsch erscheinen, denn ich möchte unbedingt erfahren, wie es in der Alten und Neuen Welt weitergeht.

Edvard Hoem: Der Heumacher. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2024
https://www.urachhaus.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog:

      Hoem

Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers

  Gespenster der Vergangenheit

Kriminalhauptkommissar Arno Groth ist im Herbst 1991 frisch zurück in seiner mecklenburgischen Geburtsstadt, dem fiktiven Wechtershagen nahe Demmin. Nicht ganz freiwillig hat er Hamburg verlassen, wo er seit seinem Weggang aus der DDR 1960 lebte und arbeitete, als Kriminalpolizist, weil aus dem Germanistikstudium für den passionierten Leser und Sammler von Erstausgaben nichts wurde. Nun soll er in der alten Heimat ermitteln und als Aufbauhelfer Ost ehemalige DDR-Volkspolizisten schulen, keine dankbare Aufgabe und nicht dazu angetan, Freundschaften mit den neuen Kolleginnen und Kollegen zu schließen. Eine Scheidung, der Tod seiner Tochter und eine unverzeihliche berufliche Fehleinschätzung setzen dem von Zweifeln geplagten Mann darüberhinaus schwer zu.

Ein Toter am Wechtsee
Kaum angekommen, trifft Groth im Hof der Polizeiwache auf den Ex-Musiker und jetzigen Tretbootverleiher Siegmar Eck, einen verwahrlosten Alkoholiker, der sich verfolgt fühlt. Bevor dieser dem zweifelnden Groth Beweise dafür bringen kann, wird er tot am Bootsanleger des Wechtsees aufgefunden. Ohne Hinweise auf Fremdeinwirkung und mit einem plausiblen Unfallszenario wird der Tod als Unglücksfall eingestuft. Nur Groth mag sich damit nicht abfinden, gar zu seltsam erscheint rückblickend seine Begegnung mit dem Opfer. Als sich auch noch herausstellt, dass Eck zehn Jahre zuvor im Mordfall an der 19-jährigen Polizistentochter Jutta Timm als Haupttatverdächtiger galt, wegen seines bombensicheren Alibis jedoch freigesprochen wurde, ist Groths Ermittlerinstinkt endgültig geweckt. Warum fehlen in diesem abgeschlossenen Altfall aus dem Mai 1980, in dem nie ein Schuldiger ermittelt wurde, sämtliche Akten? Entgegen der Anordnung seines neuen Chefs verbeißt sich Groth in den Fall, wohlwissend, dass er sich keinen weiteren Fauxpas leisten darf.

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Tropen

Und noch jemand ist neu in Wechtershagen: die Kellnerin Regine Schadow aus Berlin, wesentlich jünger als Groth, aber mit nicht weniger Altlasten. Sie arbeitet im zweitklassigen Ausflugslokal am Wechtsee, löst nebenher die Wohnung ihrer Großmutter auf und scheint einiges zu verbergen. Jedenfalls gibt sie immer nur so viel zu, wie Groth bereits weiß. Welche Verbindung hatte sie zum Opfer und warum hat sie wirklich ihre Stelle im Kempinski aufgegeben?

Viel mehr als ein Whodunit-Roman
Die 1968 in Heidelberg geborene ehemalige Richterin Susanne Tägder hat ihr sehr empfehlenswertes Krimidebüt Das Schweigen des Wassers, das auf einem realen Mordfall von 1979 fußt, in der ehemaligen Heimat ihrer Eltern angesiedelt: Vorbild für Wechtershagen war die Stadt Neubrandenburg. Was den Krimi aus der Masse der Neuerscheinungen heraushebt, sind seine sprachliche Gewandtheit, die Wahl der beiden Zeitebenen kurz vor bzw. nach der Wende, die die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche und Stimmungen beleuchten, die ruhige, melancholische Atmosphäre sowie die glaubhaften Charaktere. Alle sind verwundet, sei es das Mordopfer Eck, dessen Leben nach der Anklage aus der Bahn geriet, der Kafka lesende Ermittler Groth mit seiner schwierigen Vergangenheit, sein neuer Kollege Gerstacker, der im Fokus der Stasi-Begutachtungskommission steht, oder die traumatisierten Mitglieder der Familie Timm. Ausgerechnet die alten DDR-Seilschaften, die den Mordfall von 1980 weitgehend vertuschten, haben die Zeiten allgemeiner Auflösung, Verunsicherung und Entwurzelung um 1989 unbeschadet überlebt.

Einziger Wehmutstropfen beim Lesen war für mich, dass ich die Auflösung recht früh – und richtig – durchschaute, was ich selbst bei diesem literarischen Krimi, der viel mehr als nur Whodunit-Roman ist, schade finde. Auf eine Fortsetzung hoffe ich trotzdem, denn Susanne Tägder, Arno Groth und Wechtershagen haben unbedingt das Potential dafür.

Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers. Tropen 2024
www.klett-cotta.de/verlage/tropen

Sabine Rennefanz: Kosakenberg

  Wurzeln und Neubeginn

 

Der Wegzug von rund vier Millionen Menschen löste im Osten Deutschlands nach 1989 eine demografische Krise aus. Eine von denen, der im Osten die Luft zum Atmen fehlte, ist Kathleen, Ich-Erzählerin im Roman Kosakenberg von Sabine Rennefanz. Nach dem Abitur 1997 verlässt sie ihr fiktives Dorf im Osten Brandenburgs, um im Westen zu studieren:

Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat. (S. 9)

Immer seltener werden fortan ihre Besuche und sie wird zu einer Fremden mit zwei Leben, wie es der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Navokov formuliert:

Das eine, das man lebt, und das andere, das an dem Ort weitergeht, von dem weggegangen ist. (S. 11)

Gehen – ein Vergehen?
Mit 25 Jahren hat Kathleen es geschafft: Als Grafikdesignerin ergattert sie einen Posten in London. Damit lässt sie ihre Herkunft nun sogar doppelt hinter sich: geografisch und sozial. Die Entfremdung manifestiert sich in einer unüberbrückbaren Sprachlosigkeit. Das Desinteresse der Eltern, die sich weder etwas unter ihrem Beruf noch unter einem Leben in London vorstellen können, empfindet Kathleen als feindselig, sie ist verletzt und zunehmend verbittert. Was sie stolz macht, ist in Kosakenberg nichts wert. Sie wiederum schämt sich für das Dorf, die Eltern, die Wegbegleiterinnen und –begleiter ihrer Kindheit und Jugend und blickt mit nicht verborgen bleibender Arroganz auf die Gebliebenen herab:

… ich ging, sie blieben, meine Welt wurde größer, ihre blieb klein und eng. (S. 17)

Zugleich leidet sie unter der Verachtung, mit der man sie im Dorf straft, und die ihr ein Gefühl des Verrats vermittelt:

Gehen, ein Vergehen. (S. 113)

© B. Busch, Buchcover: © Aufbau

Zehn Heimfahrten
Zehn Besuche in der Heimat innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre geben dem Roman seine Struktur. Jedes Mal leidet Kathleen unter der Ambivalenz ihrer Gefühlen: Sie reist mit „Widerwillen und Neugier, Ablehnung und Sehnsucht“ (S. 107) an und verspürt Erleichterung beim Gehen. In London bleibt sie trotz beruflicher Erfolge und einer Einladung zur königlichen Gartenparty, mit der man „es geschafft hat“, fremd, auch wenn sie es kaum eingesteht. Der Verkauf ihres Elternhauses nach dem Tod der Großmutter, ausgerechnet an ihre Jugendfreundin Nadine, bringt sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Nadine, eine der wenigen Gebliebenen, steht Kathleens Mutter näher als sie selbst. Hatte Kathleen vorher in der Gewissheit der jederzeit möglichen Rückkehr gelebt, ist dieser Weg nun versperrt. Hätte sie das Haus, eine winzige Backsteinkate mit Plumpsklo, Kohleofen und grauem DDR-Verputz, übernehmen sollen? Aber wäre die Rückkehr nicht das Eingeständnis einer Niederlage? Wie kann sie stattdessen in London eine echte Heimat finden?

Eine uneingeschränkte Leseempfehlung
Kosakenberg ist ausdrücklich kein autobiografischer Roman, obwohl die 1974 geborene, in Eisenhüttenstatt aufgewachsene Journalistin und Autorin Sabine Rennefanz spürbar viele Erfahrungen mit ihrer Protagonistin teilt. Ob auch sie nach ihrem Weggang mit Eiern aus der Heimat versorgt wurde, diesem gleichermaßen als Zahlungsmittel wie als Liebesbeweis dienenden Nahrungsmittel, das man auf dem hervorragend zum Roman passenden Cover sieht? Mir hat diese fast komplett aus der subjektiven Perspektive einer nicht immer sympathischen Protagonistin erzählte Geschichte über Wurzeln und Neubeginn ausnehmend gut gefallen, nicht nur als Beitrag zur andauernden Ost-West-Problematik, sondern auch zur Landflucht überall. Sabine Rennefanz ist eine ausgezeichnete Erzählerin, die den melancholischen Grundton ihres Romans mit feiner Ironie durchbricht, minimalistisch, elegant, sensibel und punktgenau formuliert, passende Sprachbilder findet, weder beschönigt noch übertreibt und deren exzellent gezeichnete Figuren sich glaubhaft entwickeln. Unbedingt lesen!

Sabine Rennefanz: Kosakenberg. Aufbau 2024
www.aufbau-verlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Sabine Rennefanz auf diesem Blog:

Scott Alexander Howard: Das andere Tal

  Zeit und Schicksal

Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als isoliert, umgeben von Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und patrouillierenden Gendarmen. Niemand darf das Tal ohne Zustimmung des Conseils verlassen, um in die identische Stadt im Osten zu gelangen, die 20 Jahre in der Zeitlinie voraus ist, oder im Westen, wo es 20 Jahre früher ist. In 20-Jahres-Schritten wiederholen sich die Täler in unendlicher Abfolge. Flüchtlinge werden gnadenlos gejagt. Wer auf eine Eingabe hin eine der seltenen Besuchsbewilligungen in die Zukunft oder Vergangenheit erhält, meist im Zusammenhang mit einem Trauerfall, darf die Zeitlinie bei Androhung drakonischer Strafen weder stören noch gar verändern:

Verlass nie dein Tal, misch dich nirgendwo ein. (S. 100)

Ein ungeplanter Zwischenfall
Die zunächst jugendliche Erzählerin Odile Ozanne steht als 16-Jährige zu Beginn des Romans kurz vor dem Schulabschluss und soll sich auf Wunsch ihrer Mutter für das Auswahlverfahren zum Conseil bewerben, wo ihr dauerhaft Macht, Ansehen und finanzielle Sicherheit winkt. Odile ist eine schüchterne, unsichere Außenseiterin, die gerade erst eine Gruppe von Freunden gefunden hat. Während sie am strengen Ausscheidungswettbewerb teilnimmt, wird sie zufällig Zeugin eines Besuchs aus dem Osten, der Zukunft. Odile erkennt in den trauernden Besuchern ausgerechnet die Eltern ihres Freundes Edme, ihrer ersten Liebe, und erfährt auf diese Weise, dass er bald sterben wird. Der ungeplante Zwischenfall, der dem Conseil nicht verborgen bleibt, stürzt Odile in einen Loyalitätskonflikt: Soll sie dem Conseil gehorchen, der jede Einflussnahme streng verbietet, oder ihren Freund warnen?

Eine gebrochene Biografie
Im zweiten Teil des Romans, der sich nun nicht mehr wie ein Jugendroman liest, ist Odile 20 Jahre älter. Ihre gebrochene Biografie hat sie als einzige Frau in die Grenzgendarmerie geführt, wo sie Flüchtlinge abfängt oder Besucherinnen und Besucher begleitet und in ihrer einsamen Freizeit Holzschnitte anfertigt. Noch einmal erhascht sie einen verbotenen Blick, dieses Mal in die eigene Zukunft. Wieder steht sie vor einer Entscheidung, doch ist sie nun nicht mehr die unerfahrene Jugendlich, sondern eine desillusionierte erwachsene Frau.

© B. Busch, Buchcover: © Diogenes

Ein spannendes Gedankenexperiment
Obwohl ich nie Science-Fiction lese, hat mich das dem Buch zugrundeliegende Gedankenexperiment mit den zeitverschobenen Orten sofort gereizt. Was, wenn man die Vergangenheit oder die Zukunft ändern könnte, wenn Schicksale auf ungeahnte Weise veränderbar wären? Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard hat wohlüberlegt und sorgfältig konstruiert ein Universum erschaffen, in das ich gerne eingetaucht bin. Die bedrückende Atmosphäre der streng abgeriegelten, diktatorisch regierten Stadt, die genauen Ortsbeschreibungen, spannende Nebenschicksale, die gut begründete Entwicklung der Protagonistin und das rasante Ende haben mir gefallen. Sprachlich ist der Roman unspektakulär und eher einfach, gedanklich verlangt er jedoch bisweilen größte Konzentration, wenn es um die Konsequenzen der Zeitverschiebung geht.

Das andere Tal ist ein sehr besonderer Roman über Zeit und Schicksal, Fremdbestimmung und freien Willen. Weniger als die Geschichte von Odile wird mir die ungewöhnliche Prämisse im Gedächtnis bleiben, über die sich immer wieder neu nachdenken lässt.

Scott Alexander Howard: Das andere Tal. Aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

  Provinztristesse

Und als sie lebten, war es, als lebten sie nicht noch ihre Kinder nach ihnen. (Sirach 44,9, Lutherbibel 2017)

Als der Roman Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu 2018 in Frankreich erschien und im gleichen Jahr mit dem Prix Goncourt die höchste literarische Auszeichnung des Landes erhielt, wurde er vom Feuilleton stürmisch gefeiert. Wenig später demonstrierte erstmals die sogenannte Gelbwestenbewegung in Frankreich und seitdem gilt das Buch als vorweggenommene Erklärung zu ihrem Entstehen.

Arbeits- und Perspektivlosigkeit
In den vier heißen Sommern 1992, 1994, 1996 und 1998 erzählt der Roman vom Aufwachsen in der fiktiven lothringischen Provinzstadt Heillange an der luxemburgischen Grenze nach dem Vorbild des 16.000 Einwohner zählenden Hayange. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war die Gegend von der Eisen- und Stahlindustrie geprägt, die vielen Einheimischen und Gastarbeitern Arbeit gab. Die Stilllegung der letzten Hochöfen zu Beginn der 2000er-Jahre bedeutete für sie Arbeits- und Perspektivlosigkeit und wird als ursächlich für das enorme Erstarken des Front national gesehen. Nicolas Mathieus Roman beschäftigt sich mit den Folgen dieser Entwicklung auf die nachwachsende Generation.

Anthony, Hacine, Steph
Im Mittelpunkt steht mit Anthony einer ihrer Vertreter, Sohn eines ehemalig stolzen Arbeiters, der sich inzwischen notdürftig mit Gartenarbeiten durchschlägt, seine Frau verprügelt und mit den Nachbarn grillt und trinkt. Anthony ist zu Beginn 14, angeödet und frustriert vom Kleinstadtleben, einzig am Kiffen, Saufen und Sex interessiert, fühlt sich seiner Familie überlegen und träumt vom großen Ausbruch. Auf keinen Fall will er werden wie die Erwachsenen. Als er sich heimlich das Motorrad seines Vaters ausleiht und der 17-jährige Hacine aus der Plattenbausiedlung, Franzose, Sohn marokkanischer Eltern und ebenso perspektivloser Kleinkrimineller, es zunächst klaut, dann abfackelt, setzt das eine unaufhaltsame Kettenreaktion für beide Familien in Gang. Die dritte im Bunde ist Steph, Tochter aus reichem Haus, in die Anthony sich mit 14 hoffnungslos verliebt, der er aber immer nur dann näher kommt, wenn Alkohol und Drogen im Spiel sind. Auch Steph will unbedingt fort, hat aber im Gegensatz zu Anthony und Hacine Wissen und Geld.

Wie später ihre Kinder wirft ein Bild auf Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Langeweile, Frustration, Ängste und Sehnsüchte der Menschen in der Provinz und die Unmöglichkeit für das Prekariat, dem zu entkommen. Durch die ehemals vereinte, stolze Arbeiterschaft geht ein Riss, Rassismus ist salonfähig geworden und der Kontakt zwischen den Generationen abgebrochen.

Gemischtes Fazit
Es lag nicht am Sprecher Barnaby Metschurat, dass die ungekürzte Lesung auf zwei mp3-CDs in 13 Stunden 30 Minuten mehr Anstrengung als Genuss für mich war. Besser wurde es, als ich die Anordnung in Episoden im Zweijahresrhythmus durchschaut hatte, die sich in der gedruckten Ausgabe schneller erschließt. Über weite Strecken waren mir die Romanfiguren zu klischeehaft geschildert und zu unsympathisch. Die Hoffnungslosigkeit ist  niederdrückend, und doch ist gerade Nicolas Mathieu selbst ein Beispiel dafür, dass man der Provinztristesse aus eigener Kraft entkommen kann. Gestört hat mich außerdem der extrem detailreich und drastisch beschriebene Sex aus sehr männlicher Sicht ohne Gewinn für das Textverständnis. Die Alltagssprache der Jugendlichen passt zwar ausgezeichnet, ist aber über eine so lange Hör-Zeit anstrengend.

Trotzdem bin ich, durchgehalten zu haben. Was bleibt, ist ein soziologisch durchaus interessanter, sehr atmosphärischer Blick auf die Gruppe der sonst eher unsichtbaren „Abgehängten“ in der französischen Provinz.

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Lesung mit Barnaby Metschurat. SR2 Kulturradio. DAV 2019
www.der-audio-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Siegertiteln des Prix Goncourt auf diesem Blog:

2016
2019
2021

 

Raffaela Romagnolo: Die Libanonzeder

  Ein Kleinod des Nature Writing

Unter dem Motto „Take Care“ versammelt der Verlag Diogenes in seiner neuen Reihe Diogenes Tapir Sachbücher und Romane, die von der Natur, der Menschheitsgeschichte, Kulturen, Gemeinschaften und Respekt erzählen. Einer der ersten Titel, die als wertige, nachhaltig produzierte Hardcover-Ausgaben in der typischen Verlagsfarbe Weiß, aber mit verändertem Design erscheinen, ist ein nur 120 Seiten umfassendes, entzückendes, exklusives Bändchen der italienischen Autorin Raffaela Romagnolo mit dem Titel Die Libanonzeder. Die 1971 geborene Italienerin hat mich 2019 mit ihrem Roman Bella ciao begeistert und auch Dieses ganze Leben habe ich 2020 gerne gelesen.

Bäume als Protagonisten
Der Verlag der italienischen Originalausgabe Aboca Edizioni ruft in seiner Reihe Il Bosco degli Scrittori (Der Wald der Schriftsteller) Autorinnen und Autoren dazu auf, über Bäume ihrer Wahl zu schreiben. Raffaela Romagnolo hat mit der Libanonzeder den am häufigsten in der Bibel zitierten Baum gewählt. Er steht symbolisch für Macht, Stärke, Erhabenheit, Schutz, Eleganz und Ruhm, aber auch für Langlebigkeit, Heiligkeit und Frieden. Ursprünglich war diese Zedernart im Libanon weit verbreitet, der sie  in seiner Flagge führt, wurde aber dort weitgehend abgeholzt. In Mitteleuropa, wo die Libanonzeder bislang wenig verbreitet ist, könnte diese trocken- und hitzetolerante Sorte zukünftig weniger an den Klimawandel angepasste Baumarten ablösen.

Vier Kurzgeschichten
In Raffaela Romagnolos Büchlein ist die Libanonzeder der rote Faden, der vier Kurzgeschichten aus vier Epochen miteinander verbindet. Die Protagonistinnen und Protagonisten stehen an Wendepunkten ihres Lebens, alle haben dramatische Verluste erlitten. Zu Beginn und zwischen den Geschichten gibt es kurze, sehr poetische Kapitel zum Lebenszyklus des Baumes: Keimung, Verwurzelung, Fortpflanzung und Untergang.

© B. Busch, Buchcover: © Diogenes

Von der Vorzeit bis in die Zukunft
In der ersten Geschichte flieht die 15-jährige Hotti vor ihrer archaischen Familie, um ihrem Geliebten über das Gebirge und durch den großen Zedernwald ans Meer zu folgen.

Die eigenhändige Anpflanzung einer Libanonzeder in der zweiten Erzählung wird 1787 zum Wendepunkt im Leben des wider Willen zum Präfekten des Botanischen Gartens von Pisa ernannten Giorgio Santi.

In der dritten Geschichte möchte eine junge, vom Tod ihres Mannes tief getroffene Gräfin eine bei ihrer Hochzeit 1856 gepflanzte Libanonzeder fällen, bevor sie das Weingut im Piemont verlässt. In der Gewitternacht vor ihrer Abreise greift sie zur Axt.

Die letzte Geschichte ereignet sich in der Zukunft. Nach einer nicht näher beschriebenen großen Katastrophe wird im Rahmen eines Forschungsprogramms nach Möglichkeiten zur Wiederbesiedlung gesucht wird. Mit seiner Einmannkapsel macht Kommandant Lars Nyman im nördlichen Libanon eine sensationelle Entdeckung.

Der Kreis schließt sich
Mit der ersten und letzten Geschichte im Wadi Qadisha, Libanon, wo einst der „Wald der Zedern des Herrn“ stand, schließt sich der Kreis. Die Libanonzeder in Pisa fiel 1935 einem Sturm zum Opfer, während der piemontesische Baum bis heute dort steht.

Die Libanonzeder von Raffaela Romagnolo wurde 2023 von der Stiftung der Gärten Venedigs mit dem Campiello Natura Preis für belletristische, der Natur gewidmete Werke ausgezeichnet. Auch mich hat dieses Kleinod aus dem Bereich Nature Writing in der vorzüglichen Übersetzung von Peter Klöss sehr begeistert.

Raffaela Romagnolo: Die Libanonzeder. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Diogenes Tapir 2024
www.diogenes.ch/microsites/tapir

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Raffaela Romagnolo auf diesem Blog:

 

Isabelle Autissier: Acqua Alta

  Wahrgewordener Albtraum

 

Mit den Romanen der ehemaligen Weltumseglerin und Vorsitzenden des WWF Frankreich, der 1956 geborenen Französin Isabelle Autissier, reist man weit: nach Südgeorgien mit Herz auf Eis, an die äußersten Grenzen Sibiriens mit Klara vergessen und nun mit Acqua Alta nach Venedig. Allerdings liegt die Lagunenstadt schon monatelang in Trümmern, als der Roman 2021 einsetzt:

Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen. Er verschleiert die Trostlosigkeit eines eingestürzten Erkers, eines klaffenden Daches, einer Fassade, aus der die leeren Fenster wie tote Augen starren. (S. 5)

Das unglückliche Zusammentreffen von Hochwasser und Sturm hat zu dem geführt, was viele aufgrund von Bauboom, Massentourismus und Klimawandel längst prophezeiten: dem Untergang der jahrhundertealten Welterbestadt.

Hintergrund, Fotos der Venedig-Gemälde von William Turner und Collage: © B. Busch, Buchcover: © mare

Familie Malegatti
Durch die menschenleeren Kanäle steuert ein einsamer Mann sein Boot: Guido Malegatti, Visionär und Macher aus kleinbäuerlichen Verhältnissen an der Küste, dessen Stern in den letzten Jahrzehnten in Venedig kometenhaft aufging: erfolgreicher Bauunternehmer, Heirat mit einer stillen, ganz dem alten Venedig verbundenen Frau aus verarmtem Hochadel und als Krönung gewählter Abgeordneter und Wirtschaftsrat. Wie durch ein Wunder hat er schwerverletzt das Inferno auf seiner Terrasse im dritten Stock überlebt, während die Leiche seiner Frau Maria Alba nie gefunden wurde. Sein Glaube an Fortschritt, Wachstum und Technik war grenzenlos:

Ich glaube nicht an die Geschichten von der untergehenden Stadt oder der sterbenden Lagune, und selbst wenn es so kommen sollte, dann wird man Lösungen finden. Wir sind schließlich auch auf den Mond geflogen, da machen uns doch wohl ein paar Zentimeter Wasser keine Angst. (S. 185)

Als Stachel in Guidos Fleisch entpuppte sich im Jahr vor der Katastrophe zunehmend seine 17-jährige Tochter Léa. Von der Mutter mit ihrer tiefen Liebe zu Venedig infiziert, erkannte sie während ihres Architekturstudiums schlagartig die Fragilität der Stadt und die Verursacher ihrer Bedrohung. Während ihr Vater auf eine weitere Zunahme der Touristenströme setzte und unbegrenztes Vertrauen in das 2020 eröffnete milliardenschwere Flutschutzsystem MO.S.E. hatte, wurde bei ihr aus anfänglichem Entsetzen Wut, die Studentin aus gutem Hause mutierte zur militanten Aktivistin.

Ein belletristisches Sachbuch
Faszinierend an Acqua Alta ist für mich die Mischung aus Sachbuch und Roman, die der wie immer herausragenden Erzählerin Isabelle Autissier vorzüglich gelingt, auch wenn dies unweigerlich zu einem Kompromiss bei der Tiefe und Kompexität der Charaktere führt. Poetische Teile über die Schönheit Venedigs wechseln sich ab mit Daten und Fakten zur Lage der Stadt, im Hintergrund schwingt die Corona-Epidemie mit. Neben Venedig und der Lagune sind – wie immer in ihren Romanen – das Meer und Menschen in Ausnahmesituationen zentral, hier drei antagonistische Mitglieder einer Familie und ihre unvereinbaren Standpunkte.

Nicht nur Venedig
Auch wenn es in Acqua Alta vordergründig „nur“ um Venedig geht, steht die Stadt doch symbolisch für die Entwicklung des Klimas, die Umweltzerstörung, das Wegschauen und die Arroganz menschlichen Ehrgeizes weltweit. Dies faktenbasiert und ruhig ins Bewusstsein zu rücken, um im besten Fall ein Nachdenken über eigenes Verhalten zu erreichen, schafft diese fesselnde, gut geschriebene und trotz des vorweggenommenen Endes spannende Dystopie, die nah an der Realität und trotzdem hoffentlich Fiktion bleibt.

Isabelle Autissier: Acqua Alta. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. mare 2024
www.mare.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Isabelle Autissier auf diesem Blog:

    

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Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela

  Mehrere Anfänge, ein Ende

Was eine Tragödie ausmacht, sagte die Frau, ist, dass wir immer wissen, wie sie endet. […] Und trotzdem lesen wir, warum auch immer weiter. Wir leben weiter, als wüssten wir nicht, was am Ende passiert. (S. 185)

 

 

 

Vom tragischen Ende erfahren wir im Roman der 1983 geborenen chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán gleich zu Beginn:

Das Mädchen ist tot. (S. 8)

Aufklärung über die Hintergründe der sich durch viele warnende Vorzeichen anbahnenden Tragödie verspricht uns die Hausangestellte einer bürgerlich-wohlhabenden Familie in Santiago de Chile. Estela García, wahrscheinlich indigener Herkunft, sitzt in einem Gefängnis und weiß nicht, wer sich hinter der Spiegelwand befindet. Aber endlich hört ihr, wie sie vermutet, jemand zu, endlich hat sie einen Namen. Die Frau, die auf dem sehr gelungenen Cover ohne Kopf abgebildet ist, holt weit aus, erzählt die Geschichte mit mehreren Anfängen und fordert immer wieder die Aufmerksamkeit ihres vermeintlichen Publikums ein.

Von Chiloé nach Santiago
Gegen den Rat ihrer Mutter verließ die 33-jährige Estela ihre Heimatinsel Chiloé im Süden Chiles, um als Hausangestellte in Santiago zu arbeiten. Unmittelbar vor der Geburt ihrer Tochter Julia stellten ein Arzt und eine Rechtsanwältin sie ein, fortan lebte sie bis zum Tod des Mädchens sieben Jahre später in einem Hinterzimmer der Küche und kümmerte sich rund um die Uhr an sechs Tagen die Woche um alle Belange des Haushalts und das Kind. Ihre freien Sonntage verbrachte Estela meist im Bett und telefonierte nur mit ihrer Mutter.

© B. Busch. Buchcover: © Hanser Berlin

Estela war keine duldsame oder gar dankbare, ihren Arbeitgebern freundlich ergebene Angestellte, obwohl sie deren korrektes Verhalten mehrfach betont. Sie kämpfte mit psychischen Problemen, war hin- und hergerissen zwischen Wut, Verzweiflung, Auflehnung, Hass, Rachegedanken und doch auch Zuneigung, zumindest zu Julia, obwohl ihre Mutter sie davor immer gewarnt hatte. Als Einzige sah sie, wie unglücklich und gestört das überforderte Mädchen war, wie sie unter den rigiden Leistungsanforderungen ihrer neoliberalen Eltern litt, schon im Kindergarten den gnadenlosen Konkurrenzkampf ihrer Gesellschaftsklasse aufnahm und mit Gewaltausbrüchen sowie ihrem Hang zur Selbstverletzung nach Hilfe schrie. Gleichzeitig kopierte die tyrannische Julia früh das Verhalten ihrer Eltern gegenüber Estela: Distanziertheit bis zur Ignoranz, strenge Hierarchie und Reduktion der Hausangestellten auf ihre Funktion.

Schattenseiten der Leistungsgesellschaft
Wer Mein Name ist Estela als Krimi oder gar Thriller liest, wird mit dem Ende hadern. Gleichzeitig war das Buch für mich aber auch kein Manifest gegen die Unterdrückung der unteren chilenischen Klasse, denn dazu taugt die offensichtlich unzuverlässige, mit psychischen Problemen kämpfende und auf die Wirkung ihrer Worte bedachte Ich-Erzählerin Estela nicht, die trotz ihrer eloquenten Schilderungen kein Interesse für die politische Lage im Land erkennen lässt. Ich habe den Roman trotzdem gern gelesen, wegen seiner schwebenden, soghaften Erzählweise einerseits, andererseits wegen der Einblicke in eine neoliberale Gesellschaft von unten. Niemand ist hier glücklich, weder die prekär beschäftigte Hausangestellte, noch die von starken Ängsten beherrschte bürgerliche Familie. Für mich ist Mein Name ist Estela daher vor allem ein psychologischer Roman über eine labile, mit ihrem Leben hadernde Frau und die Schattenseiten einer gnadenlos auf Erfolg getrimmten Leistungsgesellschaft, deren Bedrohung via Fernsehen ins Haus kommt.

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela. Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

Meri Valkama: »Deine Margot«

  Die Kindheit als schwarzes Loch

Meri Valkama, 1980 geborene finnische Investigativ-Journalistin und Autorin, teilt ein biografisches Detail mit Vilja Siltanen, der Protagonistin ihres Debütromans Deine Margot: Beide verbrachten Kinderjahre in Ost-Berlin. Während die Autorin zum Studium an die Freie Universität Berlin im dann vereinten Deutschland zurückkehrte, führt Vilja der Fund von Briefen in einer Blechdose nach dem Tod des Vaters 2011 zurück. Wer ist „Margot“, die ihre Briefe an „Erich“, offensichtlich der Vater, richtete, und die die Mutter angeblich nicht kennt? Warum hat Vilja selbst keinerlei Erinnerungen an die Zeit zwischen ihrem dritten und sechsten Lebensjahr in Ost-Berlin und an die Frau, die sie in ihren Briefen „Kastanie“ nennt?

Sie schreibt, als wäre ich ihr Kind, und ich erinnere mich überhaupt nicht an sie. (S. 50)

Eine verhängnisvolle Affäre
1983
zieht die Familie Siltanen von Helsinki nach Ost-Berlin. Vater Markus arbeitet als   Auslandskorrespondent für eine finnische sozialistische Zeitung und glaubt fest an die DDR, Mutter Rosa erhofft sich im realen Sozialismus Zeit für ihre eigene Karriere, Vilja, 2, und Matias, 4, besuchen ein Kindertagheim. Der Start in einem Plattenbau unweit des Fernsehturms ist vielversprechend, die DDR erscheint den Eltern als Paradies, zumal sie jederzeit in West-Berlin einkaufen können. Doch dann verliebt Markus sich in eine andere Frau. Als Rosa mit Matias wegen der Luftverschmutzung für einige Wochen zur Erholung nach Finnland reist, bilden Markus, seine verheiratete Geliebte und Vilja eine Familie auf Zeit. Fast vier Jahre bleibt Markus‘ Affäre geheim, dann besteht Rosa nach ihrer Entdeckung 1987 auf einer überstürzten Heimkehr. Die Ehe zerbricht schließlich trotzdem, Vilja wächst beim Vater auf, Matias bei der Mutter.

Foto (Fernsehturm): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © FVA

Verschiedene Perspektiven und Zeitebenen
Meri Valkama erzählt ihren gut 530 Seiten umfassenden Roman aus verschiedenen Perspektiven und auf mehreren Zeitebenen. Viljas Reise nach Berlin 2011/2012, mit der sie das schwarze Loch in ihrer Erinnerung schließen, die Rolle des Vaters in der DDR aufdecken und „Margot“ finden möchte, bildet den Rahmen. Ihr Wunsch nach Erinnerung ist stärker als die Zweifel an der Legitimation ihrer Nachforschungen, von denen sie weder Mutter noch Bruder abhalten können:

»Ein Versuch, zu verstehen«, sagte sie schließlich. »Mich selbst. Und Vater. Was zum Teufel eigentlich mit uns passiert ist.« (S. 469)

Die Jahre 1983 bis 1989 werden aus der Perspektive der Eltern erzählt. Die Briefe von „Margot“ datieren von August 1987 bis Oktober 1989.

Bestes finnisches Debüt 2021
Obwohl der Ausgangspunkt der Handlung mit dem Fund der Briefe einem altbekannten Muster folgt, es bei Viljas Recherchen einiger Zufälle bedarf und die erzählenden Passagen mir sprachlich deutlich besser gefielen als die zahlreichen Dialoge, habe ich Deine Margot insgesamt gern gelesen. Der Blick einer finnischen Autorin auf die neuere deutsche Geschichte und die Vorboten der Wende – Gorbatschows Perestoika, das Massaker auf dem Pekinger Tiananmenplatz und die Atomkatastrophe von Tschernobyl – ist bereichernd, wenngleich mir bezüglich der Wiedervereinigung zu einseitig pessimistisch. Den historischen Hintergrund hat die Autorin gut recherchiert und in die Handlung um starke Frauenfiguren und zögerliche Männer eingebunden. Sehr gekonnt beleuchtet Meri Valkama die zentralen Themen Erinnerung und Identität einerseits am Einzelschicksal, andererseits am Beispiel einer Nation. Belohnt wurde sie dafür 2021 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt.

Meri Valkama: »Deine Margot«.  Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Frankfurter Verlagsanstalt 2024
www.fva.de

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage

  Mehr Nebel als Polarlicht

Arctic Mirage der 1974 geborenen finnischen Musikerin und Autorin Terhi Kokkonen beginnt mit einem Schock. Wie konnte es zu dieser dramatischen Zuspitzung an einem Freitag kommen, just als endlich das ersehnte Nordlicht am Himmel zu sehen war? Beginnend mit dem Sonntag werden die Ereignisse vor dem Showdown entrollt.

Knapp dem Tod entronnen
Ein Urlaub sollte der Rettung ihrer verfahrenen Ehe dienen, dazu waren Karo und Risto eigens nach Lappland geflogen. Was sich zunächst gut anließ, endete am letzten Tag mit einem ihrer üblen Streits. Auf dem Weg zum Flughafen verunglückten sie mit ihrem Mietwagen und anstatt im Flieger nach Hause landeten sie am Sonntag, wie durch ein Wunder nur mit leichten Verletzungen, im einzigen Hotel weit und breit. Das Luxusresort namens Arctic Mirage mit Holzhäuschen zum Preis von 700 Euro pro Nacht bietet einen denkbar schlechten Service und von der Chefin persönlich angeordnete Unfreundlichkeit. Was dem gut betuchten Paar um die 50 ein paar zusätzliche Erholungstage hätte bescheren können, fördert stattdessen die Untragbarkeit ihrer Beziehung immer deutlicher zutage. Lange schon sind beide Partner psychisch auffällig und unkontrolliert im gegenseitigen wie im Verhalten zu anderen. Die Ehe ist zu einer Hölle geworden, im Raum steht sogar der Verdacht, dass Risto seine Frau um den Verstand bringen will.

Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Hanser Berlin

Verschenktes Potential
Terhi Kokkonen, die für Arctic Mirage 2020 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, hat mit dem winterlichen Lappland das denkbar beste Setting für ein Beziehungsdrama gewählt. Leider nutzt sie dieses große Potential kaum, das die unberührte Natur, die in unschuldiges Weiß getauchte Landschaft, Schnee und Eis, Kälte und Stille, Wald und Einsamkeit zur Unterstützung der Handlung eigentlich böten. Da sowohl die Rückblenden bis in die Kindheit als auch das aktuelle Geschehen weit überwiegend aus Karos unzuverlässiger Sicht erzählt werden, blieben die Geschehnisse für mich zudem bis zuletzt nebulös. Lediglich ab und zu erhascht man einen Blick von außen auf das Paar, wenn Nebenfiguren, allesamt mit kurz angerissenen, problematischen Schicksalen behaftet, ihre von Karos Sicht abweichenden Eindrücke wiedergeben. Bei manchen Nebenhandlungen des nur knapp 190 Seiten umfassenden Romans konnte ich knapp noch einen Bezug zum Hauptgeschehen ausmachen, bei anderen blieb mir die Bedeutung verborgen. Ebenso erging es mir mit dem dunklen Geheimnis, das das Paar laut Klappentext angeblich hütet.

Das Spiel mit Wahrheit und Lüge
Schade, dass der stilsicher geschriebene Roman mit dem umwerfend gelungenen Cover nach stärkerem Beginn aufgrund der genannten Kritikpunkte für mich zunehmend an Faszination verlor und die zunächst gut aufgebaute geheimnisvoll-bedrückende Atmosphäre verpuffte. Bis zuletzt hoffte ich auf einen überraschenden, logisch begründeten Plot, die verständliche Einbindung der diversen Nebenstränge und Erklärungen für vielfältige Andeutungen – leider vergebens. Unzuverlässige Erzählerinnen und Erzähler sind ein großartiger Kunstgriff in der Literatur, allerdings funktionieren sie bei mir nur, wenn das Verwirrspiel um Wahrheit und Lüge eine befriedigende Auflösung erfährt.

Trotz aller Kritik habe ich Arctic Mirage zumindest in den ersten beiden Dritteln nicht ungern gelesen. Mit etwas weniger „Mirage“, also Fata Morgana, und etwas mehr Lappland-Flair wäre für mich jedoch mehr drin gewesen.

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin